* 41 *

Die Tür des Abzugsschranks war kaum zu, da trat Königin Etheldreddas spitzer linker Fuß über die Schwelle der Großen Kammer der Alchimie und Heilkunst. Dicht hinter ihr folgte Marcellus Pye, der seiner Mutter misstraute und nicht daran dachte, sie auch nur eine Sekunde in der Kammer alleine zu lassen. Marcellus sah müde und verstrubbelt aus, nachdem er die halbe Nacht den Palast nach seinem Lehrling und dem Mädchen abgesucht hatte, von dem seine Mutter behauptete, es sei Prinzessin Esmeralda. Er trug noch die Amtsrobe des Magisters der Alchimie, die er für das Bankett angelegt hatte – und die nun zu seinem Leidwesen mit Orangensoße bespritzt war. Um den Hals trug er wie immer den Schlüssel zur Tür der Zeit.
Königin Etheldredda rauschte hocherhobenen Hauptes herein, gefolgt von ihrem Aie-Aie, der klapperte, da er auf seinen langen Krallen lief. Sie schaute sich um, den üblichen Ausdruck der Missbilligung auf dem Gesicht. »Fürwahr, Marcellus, eine protzig Kammer. So viel Gold, dass ich kaum weiß, wohin das Aug ich richten soll. Man wähnt sich auf dem Markt der Kesselflicker, wo du, wie mich dünkt, den goldenen Plunder kaufst, mit dem du schepperst wie ein holprig Karren.«
Marcellus Pye quittierte die Beleidigungen seiner Mutter mit gekränkter Miene.
Königin Etheldredda schnaubte verächtlich. »Du bist ein zartes Pflänzchen, Marcellus. Ich möcht jetzo meinen Trank, bevor die Schwermut wieder dich befällt.«
»Nein, Mama«, erwiderte Marcellus entschieden, »du wirst ihn nicht bekommen.«
»Und ob ich ihn bekommen werd, Marcellus. Seh ich ihn nicht in der Vitrin dort stehen und meiner warten?«
»Das ist nicht der deinige, Mama!«
»Mich dünkt, du nimmst es mit der Wahrheit nicht genau, Marcellus. Du warst immer schon ein hinterlistig Kind. Oh doch, ich werd ihn haben, und ich will ihn jetzt.« Etheldreddas Stimme schraubte sich in besonders unangenehme Höhen. Der Aie-Aie klappte das Maul auf, entblößte seinen langen, scharfen Fangzahn und kreischte zustimmend.
Im Abzugsschrank begann Ullr zu wimmern – das Kreischen des Aie-Aies schmerzte fürchterlich in seinen empfindlichen Ohren.
»Du sollst mich nicht zum Besten halten«, sagte Etheldredda scharf zu Marcellus.
»Ich halt dich nicht zum Besten, Mama.«
»Du wimmerst wie ein Kind.«
»Tu ich nicht, Mama«, sagte Marcellus beleidigt.
»Doch, du wimmerst, und das duld ich nicht.« Etheldreddas Stimme erklomm neue Höhen und brachte den Aie-Aie wieder zum Kreischen. Nur hörte er diesmal nicht mehr auf.
Marcellus hielt sich die Ohren zu und schrie: »Um Himmels willen, bring die Kreatur zum Schweigen, eh mir die Ohren platzen!«
Etheldredda dachte gar nicht daran, den Aie-Aie zum Schweigen zu bringen. Marcellus regte sich auf, und das war ihr recht. Der Aie-Aie jaulte weiter wie eine Katze, die in der Falle saß. Und wenn das Gejaule Marcellus schmerzte, so war es für Ullr unerträglich. Er stieß ein Schmerzensgeheul aus und entwand sich Snorris Griff. Der nächste Schrei Etheldreddas war ein Schrei blanken Entsetzens, als die Tür des Abzugsschranks aufflog und ein Panther herausstürzte – das Nackenhaar gesträubt, die Krallen ausgefahren, die Zähne gefletscht.
Doch statt dem Lärm zu entfliehen, geriet der bedauernswerte Ullr mitten in ihn hinein, denn bei seinem Anblick jagte der Aie-Aie Etheldreddas Röcke hinauf und kreischte auf Ohrenhöhe des Panthers weiter. Für die Großkatze war das so, als bohre ihr jemand in die Ohren. In dem verzweifelten Versuch, dem Lärm zu entrinnen, schoss sie quer durch die Kammer und verschwand im Labyrinth.
»Ullr!«, schrie Snorri und stürzte aus dem Schrank, der geliebten Katze nach. Unbehelligt von dem schockierten Marcellus und der entsetzten Etheldredda rannte sie durch den Raum und verschwand ebenfalls im Labyrinth, Ullr dicht auf den Fersen.
Septimus spürte, wie Nicko die Muskeln anspannte, und er wusste, dass sein Bruder Snorri hinterherwollte. Er hielt ihn fest, bevor er eine Bewegung machen konnte. Im Innern des Abzugsschranks herrschte beklemmende Stille, als die Tür langsam aufging und die drei verbliebenen Insassen sich Aug in Aug Marcellus und Etheldredda gegenübersahen.
»Ei, ei, was hast du für merkwürdige Geschöpfe in deinem Abzugsschrank, Marcellus«, sagte Etheldredda, etwas heiser nach dem langen Kreischen. »Aber mich dünkt, Prinzessin Esmeralda hat ihr kleines Versteckspiel einmal zu oft gespielet. Hol das Kind heraus, Marcellus. Sie darf uns nicht mehr ärgern.«
»Sie ärgert mich mitnichten, Mama. Und würdest du deine Tochter so kennen, wie es sich für eine Mutter ziemt, wüsstest du, dass dies Kind nicht Esmeralda ist.« Er blickte seine Mutter finster an.
»Du bist ein Narr«, entgegnete Etheldredda. »Wer sollte es denn seyn, wenn nicht Esmeralda?«
»Das soll sie selbst uns sagen, Mama.« Marcellus bedachte Septimus mit einem gequälten Lächeln. »Ich hoff, man hat für deine Dienste im Palast dich gut entlohnt?«
Verlegen schüttelte Septimus den Kopf.
Marcellus winkte sie aus dem Schrank und sagte: »Nun kömmt, denn die schwarze Schlange schläft darin und darf nicht gestöret werden. Denk daran, dass wir ihr morgen Gift abzapfen, um es der Tinktur beizumengen.«
»Schurke!«, rief Etheldredda. »Du wolltest deine eigene Mutter vergiften!«
»So wie du deine armen Töchter hast vergiftet, Mama? Wahrlich, das würd ich nie tun.«
Etheldredda sah ein, dass das zu nichts führte, und schlug einen zuckersüßen Ton an, der freilich niemanden täuschen konnte, am wenigsten Marcellus. »Ich bitt dich, sperr den Schrank auf, Marcellus, zeig mir die schöne blaue Phiole, denn es verlangt mich, das Wunder, das mein liebster Sohn vollbracht, aus nächster Näh zu sehen.«
»Du hast nur einen Sohn, Mama«, sagte Marcellus säuerlich. »Und es wär gewisslich seltsam, wenn er nicht dein liebster wär, wo doch andere fehlen, obwohl ich bezweifle, dass er dir noch der liebste von allen wär, würdest du deine Jagdhunde mit in die Rechnung einbeziehen.«
»Du jammerst und bist wie immer unleidlich, Marcellus. Ich bitt dich, zeig mir die Phiole, damit ich sie bewundern kann, denn sie ist ein schön Ding mit viel Gold darauf.«
»Es mag sich Gold ganz fein verteilt darin befinden, aber auf der Phiole ist kein Gold, Mama«, sagte Marcellus, gekränkt über ihren spöttischen Ton.
Etheldredda verlor die Geduld. Wie eine Ratte die Regenrinne hinauf, so schoss sie quer durch den Raum und schnappte sich die Phiole. »Ich nehm mir diesen Trank, Marcellus, eh du ihn mit dem Schlangengift verdirbst. Das kannst du mir nicht versagen.«
»Nicht, Mama!«, rief Marcellus entsetzt, als er sah, wie seine kostbare Tinktur in Etheldreddas weit geöffnetem Mund zu verschwinden drohte. »Er ist noch nicht fertig. Wer wisset, was er anrichten kann!«
Aber Etheldredda war nicht willens, mit einer lebenslangen Gewohnheit zu brechen und auf ihren Sohn zu hören. Ohne seine Warnung zu beachten, schüttete sie sich den klebrigen Inhalt der Phiole in den Mund und schluckte ihn angeekelt hinunter. Dann beugte sie sich vor Schmerz vornüber, hustete und würgte. Die Flüssigkeit stieg aus ihrem Magen wieder nach oben, schwappte in ihrem Mund herum und überzog ihre Zähne wie mit blauem Teer. Entschlossen schluckte Etheldredda sie wieder hinunter, richtete sich auf und lehnte sich gegen den Tisch, wackelig und weiß wie ein Laken. Ohne zu wissen, welche Wirkung die Tinktur bei seiner Herrin hatte, sprang der Aie-Aie auf den Tisch und trank die restlichen Tropfen. Dann leckte er sich die Lippen und kratzte mit einer langen Kralle die letzten schleimigen Flecken aus der Phiole.
Jenna, Septimus, Nicko und Marcellus sahen entgeistert zu.
»Das hättest du nicht tun dörfen, Mama«, sagte Marcellus leise.
Etheldredda schwankte leicht, holte tief Luft und gewann ihre Fassung wieder, hatte jedoch immer noch klebrige blaue Zähne. »Mir versaget man nichts, Marcellus!«, rief sie, als die Tinktur in ihre Blutbahn gelangte und ein erquickendes Gefühl der Macht durch ihre Adern strömte. »Dieweil ich für alle Zeiten in der Burg werd herrschen. Es ist mein Recht und meine Pflicht. Keine andere Königin soll meinen Platz einnehmen.«
»Du dörfst deine Tochter Esmeralda nicht vergessen, Mama«, murmelte Marcellus. »Denn sie muss deinen Platz einnehmen, wenn es so weit ist.«
Mit einem giftigen Blick auf Jenna erklärte Etheldredda: »Esmeralda wird nimmer meine Krön bekommen! Nimmer, nimmer, nimmer!« Mit der Kraft der unvollendeten Tinktur, die nun durch ihren ganzen Körper strömte, fühlte sich Etheldredda unbesiegbar. Der Raum begann sich vor ihren Augen zu verzerren. Ihr unaufrichtiger Sohn wurde kleiner, und die lästige Esmeralda war nur noch ein unerledigter Punkt.
Jenna war wie gebannt vom Anblick der blauen Zähne und stechenden Augen ihrer Ur-ur-ur-und-so-weiter-Großmutter, und darum reagierte sie nicht schnell genug, als Etheldreddas Hand vorschnellte und sie am Arm packte.
»Loslassen!«, schrie sie und wollte sich aus dem Schraubstock herauswinden, was aber nur dazu führte, dass der Arm sie noch mehr schmerzte. Der Aie-Aie warf die Phiole zu Boden, sprang auf Etheldreddas Röcke und schlang dann seinen Schwanz um Jennas Hals – ein-, zwei-, dreimal, bis sie kaum noch Luft bekam.
Septimus und Nicko stürzten hinzu, um ihr zu helfen, wurden von Etheldredda aber zur Seite gefegt wie zwei lästige Fliegen.
Während Etheldredda und der Aie-Aie Jenna ins Labyrinth schleppten und verschwanden, sank Marcellus aus Verzweiflung über den Verlust seiner Tinktur auf die Knie. Er bemerkte nicht, wie Septimus und Nicko sich aufrappelten, ins Labyrinth rannten und die Verfolgung aufnahmen.
»Wir kriegen sie, Nicko!«, rief Septimus. »Sie können noch nicht sehr weit sein. Sie sind bestimmt hinter der nächsten Biegung.«
Aber da waren sie nicht. Nick und Septimus rannten durch das endlose Blau der Gänge und fanden nur Leere.